Genug des Brütens. Die letzten Wochen waren wohl für niemanden sonderlich erbaulich. Auch bin ich ziemlich sicher, dass das alles noch nicht vorbei ist, doch will ich inzwischen nicht vergessen, worum es hier eigentlich primär ging und geht: den Sport.
Falls ihr hier gelandet seid, weil ihr aufgrund des Titels nackte Haut und promiskuitive Bewegungen / Bilder / Texte erwartet habt: Ups. Das nennt sich "Clickbait" und funktioniert in mehrere Richtungen. Wie gesagt soll es hier und heute um Sport gehen.
Okay - nicht nur.
Die Frage, was Menschen dazu treibt, einen Ironman oder auch einfach einen kürzeren Triathlon in Angriff zu nehmen, wird oft sehr schnell und auch sehr einfach beantwortet. Nach bald zwanzig Jahren in diesem wunderbaren Sport bin ich jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass die Gründe meist wesentlich komplexer sind, als dass man sie in einem einfachen Satz zusammenfassen könnte.
Wo ging es denn bei mir los?
Ich bin Asthmatiker. Nicht die Sorte, die sich eben mal einen Spray als "Backup" verschreiben lässt, was mir natürlich auch schon mehrfach unterstellt wurde. Liegt ja auch nahe, das nehme ich niemandem krumm. Nein, ich habe kein "Sportler-Asthma". Ich trage wohl seit meiner Geburt etwas mit mir herum, das man "chronisch-akutes Asthma Bronchiale" nennt. Oder auf Deutsch: meine Bronchien sind permanent entzündet und wie sehr dies meine Atmung beeinträchtigt, scheint oft der völligen Willkür meines Körpers, meiner Psyche oder irgend etwas ausgeliefert zu sein. Es hat sich auch nicht "rausgewachsen", wie das ab und an der Fall ist. Mein letzter Lungenfunktionstest, und der ist noch nicht allzu lange her, zeigte deutlich, dass ich nur etwa 75 bis 80% meiner eigentlichen Kapazität nutzen kann. Allein das berechtigt die Frage einmal mehr: wie um alles in der Welt kommt man in so einer Situation auf die Idee, sich nicht nur dem Triathlon zu widmen, sondern gleich auch eine Berufskarriere daraus zu machen?
Tatsache ist, dass ich mein Asthma nie als eine Behinderung angesehen habe. Klar war es nicht sonderlich lustig, hin und wieder mit so heftigen Anfällen umgehen zu müssen, dass ich wohl schon an der Elfenbeintür kratzte. Ich habe an die wirklich schlimmen Fälle keine tatsächlichen Erinnerungen mehr, doch mein erster Spitalaufenthalt nach meiner Geburt hätte laut den Erzählungen auch durchaus mein Letzter sein können. Gleichzeitig... war das halt ganz einfach so. Es wurde getan, was man dachte, sei möglich, abgesehen davon musste ich das einfach akzeptieren. Es gab und gibt Medikamente, mit denen behandelt wurde und wird. Sport stand allerdings nie auf der Liste. Ich entdeckte ihn mehr durch Zufall.
Szenenwechsel.
Könnt ihr euch vorstellen, was es in einem jungen Menschen auslöst, wenn er sich auf allen erdenklichen Kanälen wieder, wieder und wieder anhören muss, dass er: nichts kann, nichts taugt, ein Schwächling ist, ein Weichei, dumm, unfähig, unverschämt und überhaupt eine einzige Schande?
Willkommen in der Rudolf Steiner-Schule, wo ich all' das mehrere Jahre lang täglich sattsam serviert bekam. Ich "passte nicht".
Was, in einer Waldorf-Schule? Da, wo sie Naturseide tragen und ihre Namen tanzen?
Genau da. Denn während diese Schulen viel Gutes vermitteln, hinter dem ich auch heute noch stehen kann, sind einige davon halt nunmal regelrechte Auffangpools für Existenzen, die sich Altruismus und Anthroposophie auf die Fahne schreiben, hinter der Fassade jedoch die hasserfülltesten, intolerantesten Teufel sind, die man sich vorstellen kann. Es ist in dem Fall nicht gerade ein Pluspunkt, dass man seine gesamte Primarstufe einem einzigen Klassenlehrer ausgesetzt ist. Das ist, ganz ehrlich, das russische Roulette der Pädagogik. Fünf mal geht's gut, das sechste Mal...
Es gab in meiner frühen Schulzeit mehrere Szenen wie jene, bei der meine lieben Mitschüler zunächst einmal den halben Kindergarten dazu anstifteten, sich während der grossen Pause um mich herum zu versammeln und das zu tun, was man heute allgemein als "Mobbing" bezeichnet. Was für ein kleines, süsses Wort um psychische und physische Gewalt sowie reine, seelische Grausamkeit aus dem einfachen Grund der kollektiven Belustigung zu umschreiben. Erst kamen die verbalen Provokationen, dann traute sich irgendwann ein erster Dreikäsehoch, mir einen Tritt zu verpassen und als ich mich vom Acker machen wollte, kippte die Stimmung erst recht . Ein Stoss, ein weiterer Tritt und ich lag auf dem Boden. Irgendwer packte mich an den damals schon etwas länger als üblichen Haaren, zog mich daran ein paar Meter weit über den Kies. Dann wurde ich hochgehoben, von dreien meiner Klassenkameraden über den Hof getragen und am hinteren Ende des Pausenplatzes auf den biologisch-dynamischen Komposthaufen der Schule geworfen, unter lautem Krakeelen und Gelächter sowie einigen Bemerkungen, dass ich nun endlich da sei, wo ich hingehöre.
Nachdem ich von diesem Berg organischen Abfalls geklettert war, schlug ich zu. Ich erwischte den ersten, der versuchte, mich wieder auf den Kompost zu stossen. Jedoch nur einmal. Fast augenblicklich packte mich exakt der Lehrer, der sich die ganze Szene in seiner Rolle als Pausenaufsicht (und der in diesem besonderen Fall tatsächlich mein Klassenlehrer war) angesehen hatte, am rechten Ohr, zog mich hoch und schrie mich an, ob ich noch ganz bei Sinnen sei, so brutal mit meinen Klassenkameraden umzugehen.
Leider war das kein Einzelfall, sondern während einiger Jahre mein Alltag. Natürlich könnte ich mit diesen Erlebnissen eine ganze Menge in der Gegenwart rechtfertigen, nur suche ich weder Mitleid noch habe ich Gefallen daran gefunden, zum Beispiel Fliegen die Flügel auszureissen und sie dann sterben zu lassen.
Stattdessen tat ich irgendwann das, was auf der Hand lag: ich begann auf meine Weise zu rebellieren und find in sehr jungen Jahren an, zu rauchen. Das war natürlich eine grandiose Idee. Asthmatiker, unfit, permanent krank und dann auch noch Zigaretten obendrauf... das hätte ich bloss noch mit Alkohol und Marihuana toppen können.
Ratet mal, was ich tat.
Gleichzeitig war mir unterschwellig durchaus bewusst, dass ich mich auf eine Art und Weise verhielt, für die es wenig positive Adjektive gibt. Ich fühlte mich hilf- und machtlos und war der absoluten Überzeugung, dass ich von meinem Leben nicht viel mehr zu erwarten hatte als das, was mir meine kleine, toxische Revolution an Nervenkitzel bot.
Während all' dies stattfand hatte ich jedoch die Schule gewechselt und war dort mit einer Person in Kontakt gekommen, die es alleine aufgrund ihres Auftretens schaffte, mich wie einen Handschuh zu wenden. Ich spreche von der Lehrerin, bei der ich das Privileg hatte, eine Übergangsklasse zwischen Steinerschule und, nun, der realen Welt zu besuchen. Was sie genau tat, kann ich bis heute nicht sagen, doch schaffte sie in nur einem Jahr etwas, das zuvor undenkbar für mich war: sie brachte mir bei, an mich selbst zu glauben und auch daran, dass ich etwas konnte. Egal was. Einfach etwas. Und das reichte, um bei mir eine Lawine auszulösen.
Es war im Januar 2001, als ich das erste Mal in meinem Leben ganze zehn Bahnen im Hallenbad in Aadorf schwamm. Nicht am Stück, doch im Verlauf einer guten Stunde. Einen Tag zuvor war ich, nach einem guten Vorsatz zur Jahreswende, gemeinsam mit meinem besten Freund und ebenfalls zum ersten Mal in meinem Leben eine halbe Stunde lang gelaufen. Wir hatten uns zu Silvester mit jugendlichem Schwung vorgenommen, fortan gesünder zu leben und wir machten tatsächlich Nägel mit Köpfen. Der erste und der zweite Januar 2001. Ich habe seither nicht mehr zurück gesehen, denn was die Flammen der hinter mit verbrennenden Brücken da beleuchtete, war wahrhaft nichts, das ich weiter mit mir tragen wollte.
Etwa zwei Wochen später lernten wir in genau diesem Hallenbad die damaligen Mitglieder des Tri Team Aadorf kennen. Mich faszinierte zuerst vor allem das Wort "Triathlon". Das klang nach etwas grossem und ich wusste: Schwimmen, Rad fahren und Laufen, das könnte mir Spass machen. Und es klang verwegen, nach etwas, das man sich erarbeiten musste. Dass ich das konnte, hatte ich in der Übergangsklasse gelernt. Mir wurde klar, dass ich genau das wollte. Anfang Februar hörte ich das erste Mal das Wort "Ironman", erfuhr dann die Distanzen und dass man 18 Jahre alt sein musste, um so etwas zu tun. Und dass es in Zürich solch ein Rennen gab. Ich war 15 und beschloss, dass ich in drei Jahren genau das tun würde.
SO ging das bei mir los.
War es ein Ausweg, der Versuch, vor etwas davon zu laufen? War es der Wille, mir und der Welt selbst etwas zu beweisen? Das ist möglich, ja. Ich bin kein Psychiater und werde deshalb auch nicht versuchen, die definitiv noch immer vorhandenen Traumata zu analysieren oder sonstwas mit ihnen anzustellen.
Aus meiner Sicht war es ein Ankommen, als der Triathlon in mein Leben trat. Ich erkannte, dass ich durch die richtige Arbeit und mit Fokus Dinge tun konnte, von denen ich zuvor nicht geträumt, die ich aber bewundert hatte. Ich hatte etwas gefunden, das mich mit Freude erfüllte, das in mir eine Leidenschaft weckte, in der ich meine ganzen Eigenschaften als Akribiker, Pedant und Stratege nicht nur ausleben, sondern tatsächlich anwenden konnte.
Es wäre nicht das Leben, wenn ab diesem ersten Januar 2001 alles nur gut und bergauf gegangen wäre. Es gab immer wieder Umstände und Menschen, die teils beiläufig, teils aktiv versuchten, mir das, was ich gefunden hatte, wieder zu nehmen, doch das ist für ein anderes Mal.
Was ich mit diesem literarischen Striptease hier vielmehr möchte ist euch, liebe Leserinnen und Leser, darum zu bitten, eure Augen offen zu halten. Wenn euch irgend ein Abschnitt, irgend eine Beschreibung in den letzten Zeilen unangenehm berührte, dann lasst euch sagen, dass diese Szenen auch heute noch stattfinden. In vielen Schulen, an vielen Arbeitsplätzen, in Heimen, hinter den verschlossenen Türen und Gardinen von Häusern mit gepflegten Gärten. Seht hin.
Die letzten Wochen und der Lockdown werden in vielen Menschen Dinge ausgelöst haben, die nach draussen wollen. Auch oder gerade bei Kindern. Seht hin. Hört zu. Oft spielen Kinder einfach nur, doch weiss ich aus erster Hand, wie einem die Scham über das Erlebte den Mund versiegeln kann. Und dabei spreche ich noch nicht mal von den wirklich schlimmen Dingen. Ich bin heute der Meinung, dass es damals viel, viel schlimmer hätte kommen können.
Die Schulen gehen nun nach und nach wieder auf. Was wir derzeit erleben, ist noch nicht die "Welt nach Corona", denn wir haben es noch nicht hinter uns. Doch wir - wir alle - haben bereits jetzt die Möglichkeit, all' die guten Vorsätze, die Ankündigungen des neuen "Miteinander", in die Tat umzusetzen.
Schaut hin. Hört zu. Und macht den Mund auf. Ich zähle auf euch.
Herzlich,
Fabian
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