Die meisten hatten in ihrer Schulzeit eines: das eine Fach, mit dem sie entweder einfach nicht warm wurden oder das bis zum Ende der schulischen Laufbahn ein Buch mit mindestens sieben Siegeln darstellte. In meinem Fall war das die Mathematik.
War? Nun, eigentlich ist sie das noch immer. Es gibt zwei einfache Möglichkeiten, mich zur Verzweiflung zu treiben:
1. Man halte mir eine unglaublich umfangreiche Speisekarte vors Gesicht, wenn ich wirklich, wirklich hungrig bin.
2. Man stelle mir eine eigentlich absolut einfache Rechenaufgabe.
Die viel erwähnte Logik, die in der Mathematik anscheinend zuhause ist, erschloss sich mir nie, egal, wie viele Menschen sich an der Aufgabe versuchten, mir das beizubringen. Ob das mein Klassenlehrer war ("ich schlage vor, dass du diese Zusatzaufgaben zuhause noch löst, vielleicht begreifst du es dann"), mein Onkel ("einfach immer repetieren, dann wird es einfacher") oder mein Vater ("so dumm, wie du dich anstellst, kann man gar nicht sein"), es half nichts. Die unterschiedlichen, wohl als Pädagogik missverstandenen Methoden griffen einfach nicht.
Unser Klassenlehrer erklärte wohl im Ansatz damals, wie z.B. das mit dem schriftlichen Bruchrechnen ginge, doch nachdem ich bereits bei der dritten, an sich noch einfachen Aufgabe komplett den Faden verloren hatte, wurde mir nicht etwa nochmals erklärt, was ich wo falsch gemacht hatte, sondern einfach empfohlen, zusätzliche Aufgaben zu machen. Da ich schon den Einstieg nicht wirklich beherrschte, kann man sich leicht vorstellen, wie das Resultat aussah.
Die Methode meines Vaters fusste wohl auch mehr auf der praktischen, persönlichen Erfahrung. Ihm, dem alles mit Zahlen und auch sonst immer ziemlich leicht gefallen war - so leicht, dass er sich nach eigener Aussage während der ganzen Schulzeit eine überdurchschnittliche Faulheit leisten konnte und dennoch reüssierte - blieb es stets unverständlich, wie man denn nicht verstehen konnte, dass DIESE Zahl die mit JENEN Buchstaben multipliziert nochmals einen ganz anderen Buchstaben ergab, den man durch DIESE Zahl hier teilen musste um dann nochmals einen ANDEREN Buchstaben zu erhalten. Ist doch völlig logisch! Folglich war es auch gar nicht möglich, dass der eigene Filius das nicht begriff, denn das würde ja heissen, dass er, nun, dumm wäre. Dies ist im Übrigen exakt die Logik, auf der 95% aller derzeitigen Konversationen im Internet basieren: ICH bin ja intelligent und sehe die Welt SO. Wenn du die Welt anders siehst, kann das nur heisst, dass du es nicht verstehst, also bist du DUMM.
Damit konnte ich leben, auch wenn es weh tat. Allerdings war ich zu dem Zeitpunkt sowieso längstens zu dem Schluss gekommen, dass alle, die sich irgendwie tiefer mit Mathematik befassten, irgendwo einen Schaden hatten. Mal ganz ehrlich: wer geht schon in einen Laden und kauft 32 Wassermelonen oder 52 Säcke mit je 97 Kartoffeln, von denen er dann je 3 seiner Mutter, Schwester und seinem Bruder gibt, 26 weiterverkauft und 12 selbst behält, nur, um am Ende auszurechnen, welchen Kurs an diesem Tag der Dollar hat, wenn der Wind aus Westen weht? Das können nur Soziopathen sein, aber echt.
Die Methode meines Onkels brachte immerhin dahingehend einen kleinen Erfolg, dass ich mich irgendwann in der Lage sah, ansatzweise einfache Rechnungen auf Papier durchzuführen. Wobei auch bei ihm eher die Geisteshaltung die Motivation war, dass der Mensch ohne akademischen Grad keine Daseinsberechtigung hat. Es sei ihm verziehen. Rechnen kann ich dadurch dennoch nicht.
Hätte man das ändern können?
Heute würde man mir wohl relativ bald eine Dyskalkulie diagnostizieren. Rechenschwäche, die aber nicht zwingend die Fähigkeit zur Beweisführung beeinträchtigt. Hätte das damals schon gegeben (oder besser: wäre ich auf eine Schule gegangen, in der die Schulmedizin nicht als die Wurzel allen Übels angesehen und stattdessen auf homöopathische, anthroposophische Heilpraktik gesetzt wurde), hätte mir das wohl einigen Kummer erspart.
Denn wenn ich eines lernte in diesen Jahren, dann die Tatsache, dass ich, tadah: dumm war.
Und ich war nicht faul, oh nein. Ich rackerte mich redlich ab. Ich nahm Nachhilfestunden, sogar freiwillig. Und es half nichts.
Das heisst... nein, so ganz stimmt das nicht. Es gab da eine sehr kurze Zeit in meinem Leben, in dem ich auch die mir gestellten Rechenaufgaben lösen konnte. Nämlich gegen Ende meines sogenannten Übergangsjahres, das ich an der freien Schule Winterthur besuchte. Dort sah es anders aus. Doch das ist ein Thema für ein anderes mal.
Für heute möchte ich gerne jenen, die mit ähnlichen Dingen zu kämpfen haben, sagen: es wird gut. Ihr seid nicht weniger wert, nur weil ihr nicht rechnen oder nicht richtig schreiben könnt. Lasst euch das auf keinen Fall einreden. Irgendwann dürft ihr einen ähnlichen Triumph erleben wie ich, als ich realisierte, dass mein Mathelehrer damals nicht gerade hellseherische Fähigkeiten bewiesen hatte, als er uns theatralisch prophezeite, dass wir das doch, unbedingt alles können müssten, da wir, haltet euch fest: später auch nicht permanent einen Taschenrechner bei uns hätten.
Ups.
Herzlich,
Fabian
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