Ich höre nicht oft Radio, doch wenn es mal vorkommt – so wie gestern – frage ich mich gerne: Wann hörte die breite Masse eigentlich auf, in der Musik nach Inhalt zu suchen?

Es muss irgendwann in den frühen neunziger Jahren gewesen sein. Diese These leite ich daraus her, dass dies ein Zeitpunkt in der Geschichte war, in dem es, vorderhand, nichts mehr zu sagen gab.
Bitte was?
Nun… der zweite Weltkrieg war Geschichte, ebenso der Vietnamkrieg, der nebst der Flower Power-Bewegung auch sehr viel Lyrik inspirierte. Die Kuba-Krise war überwunden, der kalte Krieg mehr oder minder Vergangenheit. Die Berliner Mauer war gefallen, die von David Hasselhoff besungene Freiheit wohl gefunden. Natürlich waren die Neunziger nicht das Ende aller Gräueltaten im Allgemeinen. Das Massaker in Ruanda 1994 kommt einem da in den Sinn, was ja auch die eine oder andere Hymne zur Folge hatte, doch begann bereits in diesen Jahren eine gewisse Ignoranz des Westens um sich zu greifen. So war es nur zwei Jahre zuvor im Rahmen des Bosnienkrieges in Srebrenica zu einem Ereignis gekommen, das noch heute um den offiziellen Status eines Genozides ringt, auch wenn sämtliche Kriterien dafür erfüllt sind. (Ob es nun Sinnvoll oder auch nur ansatzweise korrekt ist, dass Den Haag «Richtlinien» für solche Bezeichnungen ausgibt, sei dahingestellt).
Darüber sang im Radio bereits niemand mehr, ausser vielleicht in den lokalen Medien.
Vielleicht sollte ich die zuvor getätigte Aussage relativieren. Es gäbe durchaus noch etwas zu sagen, massenhaft sogar. Doch offenbar wird es nicht getan. Warum wohl?
Musik ist etwas, das berührt. Sie ist in der Lage, uns zu motivieren, anzutreiben, uns Halt zu geben. Gleichzeitig kann sie uns auch herunterziehen, traurig machen, zum Weinen bringen. So oder so hat sie im Idealfall vor allem eine Eigenschaft: uns zum Nachdenken zu bringen.
Ich selbst habe eine gewisse Affinität für Lieder und Stücke, die mir auf die eine oder andere Weise etwas beibringen. Das kann einerseits ein Epos wie beispielsweise Vivaldis «Vier Jahreszeiten» sein, das meiner Meinung nach ohne ein einziges Wort die ganze Schönheit, Anmut, Gewalt und Wechselhaftigkeit der Natur zum Ausdruck bringt.
Oder aber es sind Lieder, hinter denen die Leidenschaft und die Liebe zu einer Sache stehen, einem Land, einer Geschichte. Bei solchen Songs habe ich stets den Eindruck, eine höchst emotionale, musikalische Reise zu unternehmen, in die Geschichte beispielsweise eines Volkes oder eines Ortes eintauchen zu dürfen. Kann Musik denn überhaupt besser sein, als wenn sie uns in direkten Kontakt mit der Geschichte selbst bringt?
Doch hier beginnt genau das, was ich in meiner Welt als den Beginn des Zerfalls betrachte. Nicht, dass das etwas Neues wäre. Dazu gibt es hunderte Beispiele, wobei für mich eines besonders heraussticht. Hört man sich den Text von P.F. Sloan’s «Eve Of Destruction» einmal genau an (ja, das stammt von dem, auch wenn ihn niemand kennt. Barry McGuire hat das Lied lediglich berühmt gemacht.), so merkt man schnell, dass die Generation der «Hippies» schon in den Sechzigern von ähnlichen, wenn nicht den Gleichen Ängsten und Sorgen geprägt war als wir es heute sind. Oder eben sein könnten.
Ist das Internet schuld daran, dass wir uns weniger und weniger kümmern? Dass wir mehr und mehr in die Teilnahmslosigkeit abdriften und dass wir unsere Prioritäten dahingehend verlagern, dass uns Besitztümer mehr und mehr bedeuten, während innere Werte nach und nach ganz einfach verschwinden?
Vielleicht bin ich sarkastisch, ja, zynisch, wenn ich mir überlege, dass für die Meisten ja unterm Strich die moralische und ethische Balance nach wie vor erhalten bleibt. Zur Hochzeit, Taufe, Konfirmation und Beerdigung geht man ja nach wie vor in die Kirche, rezitiert am Ende mit dem Pfarrer ein halbherziges «Vater Unser» und hakt die zu erfüllende Sicherheitsvorkehrung einer möglichen Omnipotenten Dietät gegenüber als erledigt ab.
Vielleicht lässt man sich auch dazu breitschlagen, für eine Wohltätige Organisation zu spenden, woraufhin man ein- bis zweimal pro Jahr per Post den Bescheid erhält, dass es diversen Kindern in Afrika dank der Spende nun besser geht, danke vielmals und stets begleitet vom nächsten Einzahlungsschein. Kharmapunkte gegen Geld. Auch das ist nicht neu. Ein gewisser Johann Tetzel, seines Zeichens ein Genie auf dem Gebiet des Marketings, scheffelte im frühen 16. Jahrhundert ein wahres Vermögen in die Kassen des Vatikans, indem er seine Ablassbriefe an die ärmsten der Armen verschacherte. Zum Glück haben wir diese barbarischen Gewohnheiten schon vor langer Zeit an den Nagel gehängt. Oder?
Ich behaupte, dass sich im Grunde nicht viel geändert hat. Einzig vielleicht, dass wir mehr und mehr darum wissen, dass unser Leben wohl nicht ein Teil eines göttlichen Plans ist, sondern dass wir vielmehr selbst verantwortlich sind für das meiste, was uns im Laufe unseres Daseins widerfährt.
Dieses Bewusstsein begann sich zwar ebenfalls schon in der Zeit der Aufklärung auszubilden, doch wenn man dem Homo Sapiens eine gute Idee in die Hand gibt, dauert es in der Regel (und auf die Geschichte bezogen sind fünfzig, sechzig Jahre wahrhaftig keine grosse Zeitspanne) nicht lange, bis er überbordet. Und dieses Überborden hat, wie ich befürchte, seinen Zenit noch nicht erreicht.
Während es in den Sechzigern Menschen wie Bob Dylan, die Beatles und ihre ganze Hörerschaft waren, die damit begannen, sich in erster Linie um sich selbst zu scheren, sieht es heute ganz anders aus. Damals waren dies vielleicht die «Hippies», die als Folge der Einsicht um die Absenz einer Göttlichen Vorhersehung damit begannen, sich aus völligem Eigennutz um die Zukunft zu sorgen. Was, wenn das mit den Kriegen nicht aufhört? Was, wenn weitere Atombomben abgeworfen werden? Was, wenn die Massenmorde nicht aufhören? Wenn die Stasi noch mehr Macht bekommt? Also wurde protestiert, gesungen, inspiriert und gehandelt.
Eigentlich könnten wir davon doch auch heute wieder etwas gebrauchen. Wie wäre es denn, wenn wir die "alten" Lieder nochmals hören würden? Und nein, nicht irgendwelche, Übelkeit erregende "Remixes", bei denen es in erster Linie um einen "Coolen Beat" geht. Sondern die Texte, die damals ganze Generationen dazu animierten, eben auf einer fast schon globalen Ebene zumindest zu versuchen, etwas gegen den Zerfall von Empathie und Gemeinsamkeit zu unternehmen.
Musik könnte so viel. Wir Menschen könnten so viel. Es wäre doch schön, wenn wir uns das wieder einmal vor Augen hielten?
Hört mal hin:
Herzlich,
Fabian
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